Breslau 1

KULTURAUSTAUSCH
- ein deutsch-polnischer Stadtspaziergang

Ist Breslau/Wrocław eher eine deutsche oder eher eine polnische Stadt? Diese Frage wird seit 1945 auf beiden Seiten heftig diskutiert. Fest steht: Im frühen Mittelalter gründeten böhmische Slawen die Stadt und nannten sie Wratislawia. Lange Zeit gehörte sie dann zum Machtbereich polnischer und böhmischer Fürsten, kam aber schon im 11. Jahrhundert durch Einwanderung zunehmend unter deutschen Einfluss. Im 16. Jahrhundert  wurde Breslau habsburgisch, im 18. preußisch. Nach dem zweiten Weltkrieg fiel Breslau an Polen und wurde offiziell umbenannt in Wrocław. Es folgte eine Phase, in der die kommunistischen Machthaber alle Symbole der deutschen Vergangenheit auszulöschen versuchten. Denkmäler wurden zerstört, Inschriften an Gebäuden entfernt. Erst seit der Wende 1989 erinnert man sich allmählich wieder der gemeinsamen Geschichte. Der jahrhundertelange Kulturaustausch kann also weitergehen. Nur die Sprache wird oft zum Problem. Wer als Besucher aus Deutschland ein paar Brocken Polnisch beherrscht, ist eindeutig im Vorteil.

Reportage (rbb-INFOradio, 08.11.2008; gekürzte Fassung für Radio hr-iNFO, 15.11.2008):

[zum Anhören klicken: komplette Reportage]

Dźien dobry i serdecznie witamy we Wrocławiu.
Das heißt: Guten Tag und willkommen in Breslau. Aller Anfang ist schwer, aber Norbert Kulpiński, unser polnischer Begleiter, wird uns über alle Sprachbarrieren hinweghelfen. Er ist im Hauptberuf Deutschlehrer und im Nebenberuf Stadtführer, denn er kennt Breslau wie seine Westentasche. Wir beginnen unseren Spaziergang am südlichen Rand der Altstadt, genauer gesagt: am historischen Festungsgraben. Er ist gesäumt von einer idyllischen Parkanlage – ein grünes Band, das Sympathie weckt.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Das ist eine der längsten Promenaden in ganz Europa. Fast vier Kilometer lang ist diese Promenade, und die Entstehung ist mit den Kriegen gegen die Franzosen verbunden. Und zwar 1807 haben die Franzosen die Stadt Breslau besetzt, und die Franzosen ließen dann die Stadtmauer also abtragen. An dieser Stelle wurde die schöne Promenade angelegt, und die umkreist die Innenstadt."

Wir aber umkreisen sie nicht, sondern gehen schnurstracks mitten hinein. Auf unserem Weg passieren wir das Opernhaus, das zu den renommiertesten in Polen gehört, und streifen die ehemalige Schule von Gerhart Hauptmann. Der schlesische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger hat im modernen Breslau würdige Nachfolger gefunden.

(O-Ton Norbert Kulpiński:)
"Heute haben wir noch in der Stadt einige sehr gute Schriftsteller, und einer von ihnen, das ist zum Beispiel Marek Krajewski. Also, der schreibt so sehr interessante Bücher von einem Kommissar, der heißt Eberhard Mock. Das ist solche Geschichte vom alten Breslau sozusagen, von einem polnischen Schriftsteller geschrieben. Und er ist hier wirklich sehr populär, der Autor, und er hat auch viele Literaturpreise erhalten."

Norbert zeigt uns die Residenz der preußischen Könige, er führt uns zur Synagoge, die einst religiöses Zentrum von rund 20.000 Breslauer Juden war, und in einer engen Gasse weist er uns auf das schön restaurierte Rybisch-Haus aus dem 16. Jahrhundert hin. Die deutsche Inschrift an der Fassade hat als einzige Krieg und Nachkriegszeit überdauert.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"In diesem Haus hat Heinrich Rybisch gelebt. Das war der Kaiserrat, das war auch einer der ersten Protestanten hier in der Stadt und auch der wohlhabendste Mann. Viele Leute haben ihn beneidet, weil er so reich ist. Deswegen hier jetzt so was: 'Es kümmert sich mancher um dies und um das und weiß nicht was. Bist du aber fromm, ohne Neid und Hass, so baue ein besseres (also Haus) und lass’ mir das.'

Grünes Band am Festungsgraben
Renommiertes Opernhaus
Blumenstände auf dem Salzmarkt

Schritt für Schritt nähern wir uns dem Stadtkern. Einer seiner schönsten Plätze ist der Salzmarkt, gesäumt von ehemaligen Patrizierhäusern – teils erhalten, teils liebevoll wieder aufgebaut und in den verschiedensten Farben verputzt. Sie bilden den bunten Rahmen für die noch farbenprächtigeren Blumenstände, die übrigens rund um die Uhr geöffnet sind.

[O-Ton Blumenhändlerin Fela (auf polnisch):]
"Dafür gibt es ganz praktische Gründe", erzählt die Blumenhändlerin Fela, die seit Jahren auf dem Salzmarkt einen Stand betreibt. "Wie man sieht, haben wir hier sehr kleine Pavillons, und da ist im Inneren einfach zu wenig Platz, um alle Blumen darin aufzubewahren. Aber natürlich werden nachts auch viele verkauft, vor allem an Männer, die von den Discotheken oder von den Kneipen nach Hause gehen. Dann nehmen sie gerne Blumen mit."

Rynek.
Das heißt: Ring. So wird kurioserweise das große Rechteck in der Stadtmitte bezeichnet, welches das Rathaus umgibt. Hier herrscht geschäftiges Treiben. Einheimische und Touristen bevölkern den Marktplatz ebenfalls rund um die Uhr. Hier gibt es die größte Dichte an Kneipen und Restaurants. Auf diesem Platz schlägt das Herz Breslaus.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Hier befinden sich sehr viele schöne Häuser, viele von ihnen natürlich nach dem Krieg erst rekonstruiert, denn der Marktplatz war auch im Krieg sehr stark beschädigt, zerstört – über 70 Prozent. Und natürlich das Schönste hier, das ist das Rathaus, also, das ist die Perle der gotischen weltlichen Architektur."

Seine Ursprünge reichen ins 13. Jahrhundert zurück. In der Folgezeit wurde es ständig erweitert und umgestaltet. Wegen seiner Größe und seiner reichen Verzierungen an Giebeln und Fassaden zählt es zu den bedeutendsten Rathäusern in Europa.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Die Stadt hat sehr viele Privilegien von den Königen erhalten, und Breslau war zum Beispiel auch Mitglied der Hanse. Das Rathaus hat natürlich auch so eine Bedeutung, nicht nur als Handelssitz, sondern auch natürlich Verwaltung. Und die Breslauer Bürger, die wollten einfach zeigen, dass sie auch sehr reich sind. Deswegen so ein imposantes Gebäude mitten im Stadtzentrum."

Schöne Häuser am Ring
Reich verzierte Rathaus-Fassade
Astronomische Sonnenuhr von 1580

Noch schnell ein Foto von der astronomischen Sonnenuhr geschossen, dann schlendern wir weiter über die Nordseite des Rings zur Elisabethkirche. Vor ihrem Eingang steht ein Denkmal für Dietrich Bonhöffer, den in Breslau geborenen Theologen und Widerstandskämpfer. Die Elisabethkirche war bis vor dem Krieg das Zentrum der evangelischen Christen in Breslau. Sie galt als Kirche der Reichen.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Früher waren hier die reichsten Menschen schon seit dem 16. Jahrhundert evangelisch, also die meisten, und diese Kirche hier, das war damals die größte, die schönste Kirche in der Stadt und deswegen wollten sie hier in der Nähe von dieser Kirche begraben werden, und deswegen haben sie hier auch sehr viele schöne Epitaphien gestiftet."

Heute ist St. Elisabeth eine katholische Kirche, denn es gibt nur noch eine Handvoll evangelische Christen in der Stadt. Reiche Leute allerdings gibt es immer noch – oder seit der Wende wieder. Und für die fehlt angemessener Wohnraum. Deshalb will Breslau hoch hinaus. Der Bau von mehreren Wolkenkratzern ist geplant. Eine Art "Mainhattan" an der Oder soll entstehen.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Einer von diesen Wolkenkratzern soll Skytower sein, sozusagen das höchste Wohnhaus in Polen. Vor allem Appartements, auch Büros, bisschen über 250 Meter hoch soll das Gebäude sein."

Vor der Wende hatte Breslau noch andere Sorgen. An diese Zeit erinnern etwa 80 Zwerge, die über die ganze Stadt verteilt sind. Auf unserem Spaziergang durch die Straßen und Gassen deutet Norbert immer wieder auf die kleinen Skulpturen am Wegesrand. Sie sehen lustig aus, haben aber einen ernsten Hintergrund.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"In den Achtziger Jahren – Polen war damals kommunistisch – da gab es hier solche Organisation, die hieß Orangenfarbene Alternative. Diese Leute – das waren vor allem Studenten – die haben Zwergenmützen getragen, und die haben verschiedene Happenings organisiert. Auf solche Weise haben sie gegen den Kommunismus gekämpft. Und deswegen ist im Jahre 2001 jemand vom Stadtrat auf die Idee gekommen, von diesen Zwergen einfach Symbol der Stadt zu machen."

Studenten spielen nach wie vor eine wichtige Rolle in Breslau – wenn auch keine politische. Mehr als 140.000 junge Leute besuchen die Hochschulen und Fachhochschulen der Stadt. Mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Sie prägen das kulturelle Leben entscheidend mit und sorgen für ein jugendliches Flair. Studieren in Breslau macht offenbar großen Spaß:

Bonhöffer-Denkmal vor St. Elisabeth
Zwerg als Symbol der Protestbewegung
Studenten vermitteln jugendliches Flair

[O-Töne Studentinnen (auf polnisch):]
"Breslau ist eine wunderschöne Stadt", meint Magdalena. "Ich studiere nur am Wochenende, bin also nur zwei Tage die Woche hier. Es ist sehr anstrengend, weil man in der kurzen Zeit so viele Vorlesungen besuchen muss. Aber trotzdem ist das Studium hier sehr angenehm. Hier gibt es auch sehr viele Clubs, und auch heute Abend gehen wir auf eine Party."
"Es gefällt mir hier wirklich sehr gut", sagt die Studentin Ewelina. "Es gibt hier so viele Studentenwohnheime, so viele Kneipen, Discotheken und so viele Partys, Kinos. Also, man kann hier wirklich sehr schön seine Zeit verbringen."

Universytet.
Das heißt natürlich Universität. Sie gehört zu den bedeutendsten Bauwerken Breslaus und erstreckt sich am südlichen Oderufer. Im 17. Jahrhundert wurde sie von Jesuiten gegründet. Stifter aber war der deutsche Kaiser Leopold I. Nach dem Habsburger ist auch der repräsentativste Saal benannt.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Das ist die Aula Leopoldina, also wirklich die Perle des Barock, also des Jesuiten-Barock. Und in diesem Raum werden die Studenten immatrikuliert. Also, das ist wirklich ein sehr tolles Erlebnis. Und dann nach dem Studium bekommen sie hier ihre Diplome."

Auch Norbert hat hier sein Diplom überreicht bekommen. Unter der herrlichen barocken Deckenmalerei und sozusagen unter den Augen der Stifterfigur, des Kaisers Leopold.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Der sitzt hier in dieser Aula unter dem Baldachin auf dem Thron, flankiert von zwei größeren Figuren, und das ist also mit dem Spiegel die Wahrheit und Klugheit und mit dem Bienenstock Fleiß und Wirtschaftlichkeit. Also, das waren seine Eigenschaften, und auch über solche Eigenschaften sollen die Studenten verfügen. Und an seinen Füßen, da sehen wir zwei kleinere Figuren. Das ist also Zwietracht und mit den Eselohren Dummheit. Also, solche Eigenschaften wurden von ihm verachtet. und sie sollen auch von den Studenten verachtet werden."

Bei solch hohen Ansprüchen ist es kein Wunder, dass die Breslauer Universität insgesamt elf Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Angefangen von dem Historiker Theodor Mommsen über den Mediziner Paul Ehrlich bis hin zu dem Physiker Otto Stern. Ihnen ist eine kleine Ausstellung im Museum der Uni gewidmet. Dort treffen wir auch Besucher aus Deutschland, für die die Reise nach Schlesien eine Reise in die eigene Vergangenheit ist.

"Aula Leopoldina" in der Universität
Klugheit und Fleiß
Nobelpreisträger der Uni Breslau

[O-Töne Touristen:]
"Ich glaub’, da war ich sieben Jahre alt, da hat mich mein Vater mal als Soldat auf dem Arm zu einem Schiff an der Oder getragen. Das sind so die Erinnerungen. Das Besondere war also schon, wie ich in meinen Geburtsort gekommen bin und dann mal in der Kirche war und man hat mir gesagt, hier bist du geboren. Dann lief das schon ein bisschen den Rücken runter."
"Ich bin jetzt nach 63 Jahren das erste Mal wieder hier. Ich bin '43 hier geboren. Die Straße ist zwar noch da, aber nichts mehr, wo wir gewohnt haben. War sehr interessant, aber meine Wurzeln sind nicht mehr hier."

Denn vieles hat sich verändert seither. Das können wir bestätigen, als wir auf den Turm der Universität steigen. Von der Aussichtsplattform hat man den schönsten Rundblick. Breslau ist nicht mehr die gleiche Stadt wie damals. Viele neue Gebäude haben die alten ersetzt. Aber einiges ist geblieben, wie es war.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Da sehen wir auch die Kirchtürme. Also, Breslau, das ist auch die Stadt der Kirchen. Wir haben ja bisschen über hundert Kirchen in der Stadt. Und auch der wunderschöne Anblick auf die Oder und auf die Inseln, denn wir haben heute zwölf Inseln in der Stadt."

Wyspa Piasek i Wyspa Tomski.
Sandinsel und Dominsel, die Keimzellen Breslaus. Von diesen beiden Oderinseln aus hat sich die Stadt seit dem frühen Mittelalter entwickelt. Heute beeindrucken sie besonders durch ihre Sakralbauten. Über eine eiserne Brücke spazieren wir von der Altstadt zur Sandinsel hinüber. Unser Ziel ist die mächtige gotische Kirche St. Maria auf dem Sande. Im Inneren birgt sie ein echtes Spektakel.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Schon in den Sechziger Jahren hat der Pfarrer eine kleine Weihnachtskrippe für die blinden und für die taubstummen Kinder gebaut, und es hat ihnen so gefallen, dass er dann diese Krippe umgebaut hat, und die ist ja heute wirklich sehr groß. Die ist heute ja geöffnet durch das ganze Jahr, also Weihnachten ist hier das ganze Jahr lang."

Da machen vor allem die Kleinen große Augen. Denn neben den Klassikern – Maria und Josef, Jesuskind, Ochs und Esel – ist diese Krippe voll gepackt mit Spielzeug aller Art. Wo sonst findet man Micky Maus oder ein Karussell vor Bethlehems Stall? Der Herr Pfarrer hat ein buntes Sammelsurium zusammengetragen, das die Krippe für blinde ebenso wie für gehörlose Kinder erlebbar machen soll.

Ausblick vom Turm der Universität
St. Maria auf dem Sande
Blick durch den Dom

Hinter St. Maria im Sande führt eine weitere Brücke zur Dominsel und zum derzeit noch höchsten Gebäude der Stadt. Seine Doppeltürme ragen fast einhundert Meter in den Himmel hinein.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Der Dom hier, das ist die wichtigste Kirche in ganz Schlesien. Diese Kirche wurde als die Mutter der schlesischen Kirchen bezeichnet. Das war die erste Kirche in ganz Schlesien, die im gotischen Stil gebaut wurde, und das war natürlich immer die wichtigste Kirche, weil das war die Bischofskirche. Und das Bistum haben wir in Breslau schon seit dem Jahre 1000."

Am Ostermontag 1945, kurz vor Kriegsende, brannte der Dom nach einem russischen Bombenangriff völlig aus. Doch schnell wurde er wiederaufgebaut und konnte bereits 1951 wieder eingeweiht werden. Viele wertvolle Kunstwerke aus anderen zerstörten Kirchen fanden hier sozusagen ein neues Zuhause. So zum Beispiel ein Gnadenbild der Mutter Gottes.

[O-Ton Norbert Kulpiński:]
"Der polnische König Jan Sobieski, der hat die Türken bei Wien geschlagen, 1683, und ein paar Jahre später hat der Papst dem Sohn von dem polnischen König dieses Bild geschenkt, dass er das christliche Europa vor den Türken gerettet hat. Und sehr viele Leute beten vor diesem Bild. Auch Johannes Paul II., der polnische Papst, war hier in der Kirche und er hat hier auch gebetet."

Hier im Dom, der Johannes dem Täufer geweiht ist, endet unser Spaziergang durch Breslau. Stadtführer Norbert Kulpiński hat uns die schönsten und interessantesten Ecken der Odermetropole gezeigt – und nebenbei auch noch ein bisschen Polnisch beigebracht. Dann sagen wir doch: Dźiękuje – danke schön – und: cześć – tschüss – oder besser noch: Do widzenia – auf Wiedersehen!

 

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