Nordirland 4

DIE STADT MIT SCHRÄGSTRICH
- Mauer-Rundgang in Derry/Londonderry

Nach Belfast die zweitgrößte Stadt Nordirlands heißt – tja, da fängt das Problem schon an: Die Katholiken nennen sie "Derry", die Protestanten "Londonderry". Politisch korrekt wird sie "Derry/Londonderry" genannt. Der Schrägstrich (englisch: stroke) brachte ihr deshalb den Spitznamen "Stroke City" ein. Auch hier tobte während des Bürgerkriegs der Terror, doch davon hat sich die Stadt weitgehend erholt. Sie wurde sogar zur "Britischen Kulturhauptstadt 2013" gekürt.
Größte Attraktion von Derry/Londonderry ist die einzige komplett erhaltene Stadtmauer in ganz Irland. Bei einem geführten Rundgang auf der begehbaren Mauer kann man alle wichtigen Punkte der Stadt sehen. Und dabei erfährt man auch, woher der unselige Namensstreit kommt.

Reportage (Radio hr4, 15.06.2013; rbb-INFOradio, 29.06.2013):

[zum Anhören klicken: komplette Reportage]

Der Glockenschlag des Uhrturms am Rathaus klingt wie der berühmte "Big Ben" in London. Und das ist kein Zufall, denn die "Guildhall", wie das stolze Rathaus genannt wird, wurde von Londoner Kaufmannsgilden gestiftet. Der Glockenschlag soll die lange Verbundenheit mit der britischen Hauptstadt symbolisieren. Ihre Wurzeln reichen weit zurück, erzählt Stadtführer Thomas Carlin:

[O-Ton Thomas Carlin:]
"The ancient City of Daire …
Das alte Daire (gespr: Darrath) – in  irisch – oder Derry – in englisch – war eine klösterliche Siedlung. Anfang des 17. Jahrhunderts hat der englische König Jakob I. Irland erobert. Er beschloss die Insel zu kolonisieren, indem er Protestanten aus England und Schottland hier ansiedelte. Um die Stadt gegen die Iren zu verteidigen, ließ er eine Mauer bauen. Und er überredete die Kaufleute von London die Stadtmauer zu finanzieren. Das Projekt wurde 1613 begonnen, und zur selben Zeit fügten sie "London" dem Namen der Stadt hinzu. Daher haben wir die unterschiedlichen Bezeichnungen Derry und Londonderry.
… Derry and the Londonderry from."

Es dauerte kaum 100 Jahre, erfahren wir auf unserem Rundgang, da wurde die Stadtmauer schon einer harten Bewährungsprobe unterzogen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts versuchte der katholische König Jakob II. die Stadt einzunehmen. Dass ihm dies nicht gelang, hat die Stadt ihren Lehrbuben zu verdanken, den so genannten "Apprentice Boys". Sie werden noch heute am Jahrestag für ihr entschlossenes Handeln damals gefeiert.

Blick von der Mauer auf die "Guildhall"
Stadtmauer
Ehem. Stadttor

[O-Ton Thomas Carlin:]
"These young boys that were apprentices …
Diese jungen Lehrbuben, die meist aus London kamen, beobachteten, wie das englische Heer sich näherte. Als die Bürger sich nicht entscheiden konnten, was sie tun sollten, schlossen die Lehrlinge die Tore. Danach begann eine achtmonatige Belagerung.
… which lasted about eight months."

Die Bürger leisteten aber tapfer Widerstand und wurden schließlich vom protestantischen Gegenkönig Wilhelm III. befreit. Die historischen Kanonen auf den Mauerzinnen erinnern noch heute an die Belagerung. Und nach wie vor leben innerhalb der Stadtmauer überwiegend Protestanten, außerhalb Katholiken. Bei unserem Rundgang schauen wir runter auf das katholische Viertel Bogside. Auch dort erinnern viele Wandgemälde an die "Troubles" der 70er Jahre. Unser Stadtführer hat die schlimme Zeit selbst miterlebt:

Stadtführer Thomas Carlin
Wandgemälde in der Bogside
Peace Bridge

[O-Ton Thomas Carlin:]
"All the gates and the walls …
Alle Tore und Mauern waren von Soldaten besetzt. Sämtliche Taschen wurden nach Bomben durchsucht. Es herrschte eine unglaubliche Anspannung in der Stadt, vor allem die Angst, dass wieder eine Bombe explodieren könnte. Es gab zwar nur wenige Tote innerhalb der Mauer, trotzdem hat das Zentrum sehr gelitten. 1975 waren fast drei Viertel der Gebäude beschädigt. Das war also keine sehr angenehme Zeit, um in der Stadt zu leben.
… pleasant time to live in the city."

Aber auch Thomas Carlin ist zuversichtlich, dass der Frieden hält. Symbol dafür ist die 2011 eingeweihte "Peace Bridge" über den Fluss Foyle. Die Fußgängerbrücke verbindet den überwiegend katholischen Westen mit dem protestantischen Osten der Stadt. Und ihre gebogene Form soll widerspiegeln, wie sich zwei Menschen friedlich die Hand reichen.

 

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DER ÖKUMENE EINE CHANCE
- Interview mit Reverend David Latimer

Sind all die Friedensoptimisten nur Friedensphantasten? Nicht, wenn es mehr solcher Menschen gibt wie Reverend David Latimer. Der protestantische Pfarrer der "First Derry Presbyterian Church" ist ein unermüdlicher Prediger und Propagandist für den Frieden in Nordirland. Als charismatischer Redner und charismatische Persönlichkeit setzt er sich seit 25 Jahren für den Ausgleich zwischen den Konfessionen ein. Zwar war aller Anfang schwer, und er musste mitansehen, wie seine Kirche und sein Auto mit Steinen beworfen wurden. Inzwischen aber ist Latimer auch in katholischen Kreisen anerkannt und geachtet. Der Sinn-Féin-dominierte Stadtrat hat sogar einen Millionenbetrag zur Sanierung seiner Kirche bewilligt. Und den ehemaligen IRA-Chef Martin McGuinness zählt Latimer heute zu seinen Freunden.

Bei meinem Besuch in Derry/Londonderry (Mai 2013) hatte ich Gelegenheit mit dem Reverend ein Interview zu führen. Er nutzte es für einen flammenden Friedensappell im Stile eines Martin Luther King. Hier ein Ausschnitt (in leicht verständlichem Englisch):

[zum Anhören klicken: Interview mit David Latimer, englisch]

 

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