Argentinien 3

SCHREI AUS STEIN
- Bergsteigen unter Geiern

Schneebedeckte Berge thronen über der Ebene Patagoniens. Sie sind bei weitem nicht so hoch wie die Anden-Gipfel weiter nördlich, aber dennoch berühmt-berüchtigt. Vor allem der Monte Fitzroy, auch "K 2 der südlichen Hemisphäre" genannt, und der Cerro Torre, Schauplatz des Bergsteiger-Dramas "Der Schrei aus Stein" von Werner Herzog. Der Film hat die steinerne Nadel auch in Europa weithin bekannt gemacht. Die beiden Gipfel locken Bergsteiger aus aller Herren Länder nach Patagonien, denn sie zählen zu den schwierigsten der Welt.

Reportage (Radio SDR1, 1994; hr3, 1994):

[Musik: "El condor pasa"]

Die Bergwelt um Fitzroy und Cerro Torre ist das Reich des Kondors oder Königsgeiers, des größten Vogels der Welt. Stundenlang kreist er über den Gipfeln der Dreitausender und hält mit seinen unglaublich scharfen Augen Ausschau nach Aas. Immer häufiger aber erspäht er zweibeinige Wesen in bunten Anzügen, die versuchen in sein Reich einzudringen. Und er wird sich manchmal die gleiche Frage stellen wie der Journalist Ivan in Werner Herzogs Film.

[Film-Ausschnitt:]
"Was treibt uns Menschen auf Berge? – Als wäre das Dasein in der Ebene nicht schon höllisch genug. Martin hatte mir mal gesagt, seine Art zu klettern ähnele dem Schachspiel. Nur sei er Spieler und Figur zugleich. Und Roger? Wollte er nur die Schmach des verlassenen Liebhabers wettmachen? Oder wollte er beweisen, dass er immer noch der Größte war?"

Im kleinen Café von Chaltén sitzt eine vierköpfige Gruppe von Bergsteigern aus Österreich und der Schweiz und starrt gelangweilt auf den Fernseher. Dort wird wie jeden Nachmittag das Video "Schrei aus Stein" abgenudelt. Ihr Schrei aus Stein ist der Nachbar des Cerro Torre, der Fitzroy. Seit gut vier Wochen sitzen sie hier herum und warten, dass das Wetter besser wird und dass sie endlich den Aufstieg wagen können. Es ist lausig kalt draußen. Mitten im Hochsommer. Und die Gipfel ringsum hüllen sich in Wolken. Aber keiner denkt an Abreise. Nicht, bevor sie ihn bezwungen haben: den Fitzroy – und sonst keinen!

[O-Töne Bergsteiger:]
"Es is' natürlich der Name, net? Des Bekannte, dass er eben sehr schwierig is' und sehr schwer zu besteigen is'. Und es is' hauptsächlich eben so, dass mer zu Hause sicherlich schöne Berge hat, genug Berge, aber es lockt natürlich e bissl 's Abenteuer. Und dann isses natürlich auch e bissl e Selbstbestätigung, net? Wenn mer da oben g'stand'n is', dann grüßen's einen und sag'n: Des hast's super g'macht."
"Herg'fahr'n bin i, weil des Patagonien einfach ein' Reiz ausmacht, net? Des Wort allein, wennst Berichte liest von gewissen Tour'n un' so, dann willst halt da a amol bergsteig'n. Aber wennst dann do bist, kapierst schnell amol, dess d'net nur weg'm Bergsteig'n daher kommen kannst, weil dir passier'n kann, dass d' drei Monate da hockst un' nie auf'm Berg unterwegs sei' kannst, weil aafach 's Wetter immer so schlecht is'. Des s' eigentlich des Abenteuer, was des Ganze ausmacht."

Monte Fitzroy
Café in Chaltén
"El condor pasa"

Zur Not warten sie weitere vier Wochen. Matterhorn und Eiger-Nordwand haben sie längst hinter sich. Der Monte Fitzroy stellt weit höhere Anforderungen an das bergsteigerische Können. Mit knapp 3.500 Metern ist er vergleichsweise niedrig – und auch die rundum senkrecht aufragenden Felswände allein machen ihn nicht zum "K 2 der südlichen Hemisphäre". Es ist vor allem das meist schlechte und unvorhersehbare Wetter.

[O-Ton Bergsteiger:]
"Es geht a irrsinniger Wind dort oben, ne? Und wenn des Wetter net mitspielt, dann kannst einfach net rauf, ne? Dann kannst einfach nix machen. Dann kannst noch so gut klettern, dann geht's einfach net."

Also müssen sie weiter warten und Kaffee trinken. Und sie sind nicht die einzigen. Jeden Tag kommen Busse aus Calafate und spucken Dutzende von Touristen aus, die mit Bergsteigen gar nichts am Hut haben. Doch der Felsenkegel des Fitzroy zieht sie trotzdem in Scharen hier herauf. Und auch die tief hängenden Wolken schrecken sie nicht ab. Sie wollen so lange bleiben, bis sie ihn mit eigenen Augen gesehen haben.

[O-Ton Touristin:]
"Auf den Bildern hat er eine wunderschöne Ausstrahlung für mich. Es ist ein Berg, der einfach von der Form her fasziniert. Er ist sehr majestätisch. Er hat ganz steile, aufragende Wände und thront - zumindest auf den Bildern halt jetzt - hoch über der Landschaft. Und das ist einfach was... ja, was Wildes, was Erhabenes, wenn man ihn sieht."

Und das Warten wird häufig belohnt. Über Nacht können die Wolken verschwunden sein. Dann ist das Café von Chaltén plötzlich wie leergefegt. Alles strömt in Richtung Berg. Die einen, um endlich den Aufstieg zu wagen. Die andern, um ihn aus nächster Nähe zu bestaunen. Herrliche Wanderwege führen hinauf zu den Basislagern der Andinisten. Vorbei an Wildbächen, Wasserfällen und Bergseen. Eine kaum berührte Natur, in der noch immer der Kondor regiert. Und um den kreisen zu sehen, braucht man, Gott sei Dank, nicht bis auf den Gipfel. Den sieht man auch vom Fuß des Berges.

[Musik: "El condor pasa"]

 

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